ALTERNATIVEN | ALTERNATIVES

April 2017 | von Sandra Hoffmann-Rivero M.A. und Helge Wütscher

Alternativen: Der Fotograf Bernd Telle setzt auf Bildideen. „Künstlerische Fotografie ist nicht dazu da, schöne Bilder zu machen oder Realität abzubilden, sondern sie hat immer etwas mit dem hinter der Kamera stehenden Fotografen zu tun“, so Bernd Telle, in Nürnberg wirkender Fotograf und Künstler. Für Telle ist daher nicht die Kamera das Entscheidende oder die mögliche einsetzbare Technik, sondern die dahinter stehende Bildidee. „Es geht mir darum, Sehgewohnheiten permanent zu überprüfen und zwar nicht nur meine eigenen, sondern auch die der Betrachter.

Wir sind heute von einer so großen Bilderflut umgeben, dass es notwendig ist, Werke herzustellen, an denen man sich reiben kann. Den Hochglanzabbildungen mit flachem Inhalt sollte etwas entgegengestellt werden, was irritiert und dadurch zum genauen Hinsehen motiviert.“
Telle ist Fotograf durch und durch, er hat Licht führen und setzen über Jahrzehnte lang geübt und perfektioniert. „Die Fotografie war früher handwerklicher und es ist wichtig, sich über die historische Entwicklung auch ihrer Möglichkeiten sehr bewusst zu sein. Inzwischen hat sie an Haptischem verloren, denn es gibt kein Negativ mehr. Das Wissen über die Technik brauche ich allerdings, um meine Bilder bestmöglich zu komponieren. Ähnlich wie in der Malerei gestalte ich eine Bildkomposition, ich greife dabei auf die der Fotografie gemäßen Gestaltungsmöglichkeiten zurück wie Standpunkt, Perspektive, Licht, Ausschnitt, Tageszeit, Objektiv, Farbgebung, Wahl des Vorder- und Hintergrundes. Sogar Abstraktion und Bewegung sind möglich, aber ich vermeide Effekte, die mit Fotografie nicht unmittelbar zu tun haben.“
Mit der großformatigen Werkreihe ANTIPODE eröffnet Bernd Telle eine weitere Ebene, er stellt die Dinge auf den Kopf. Diese Umdrehung der fotografierten Motive bewirkt für uns Betrachter eine eigenartige, Neugierde weckende Distanzierung. Ohne direkten Realitätsbezug entdecken wir die poetische Kraft der fotografierten Objekte, sehen sie wie „zum ersten Mal“ und wir betrachten die Oberflächen und Details mit „anderen Augen“. Wir entdecken die malerischen und grafischen Qualitäten einzelner Flächen, ihrer Zuordnung zueinander und ihren Rhythmus, ohne sofort die dahinterliegende Struktur entschlüsseln zu müssen oder gar zu können.
Antipoden sind im klassischen griechischen Sinne die Gegenfüßer auf der anderen Seite der Erdkugel, unsere Spiegelmenschen. Die Fotografien Bernd Telles, die alle dem kulturellen Kontext entnommen sind, können wir als Spiegelbilder sehen und lesen. Sie zeigen uns Augenblicke des kurzen Innehaltens, des zärtlichen Abschiednehmens oder den letzten Blick zurück vor dem sehr wahrscheinlichen weiteren Verfall oder einer wesentlichen Veränderung. Denn was Bernd Telle fotografiert hat, sind Momente auf einem langen Weg des Werdens und Vergehens kultureller Prozesse, näher dem Vergehen, den Höhepunkt hinter sich lassend. Bernd Telle zeigt uns Spiegelbilder des Lebens, die nicht nur als Memento mori wirken, sondern mit ihrer behutsam erfassten Sinnlichkeit – auch am unwirtlichen Ort – beeindrucken.

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Photographer Bernd Telle relies on image ideas. „Artistic photography is intended neither to make beautiful pictures nor to depict reality. Instead, it always has something to do with the photographer standing behind the camera“, according to Bernd Telle, photographer and artist active in Nuremberg. For Telle therefore, the camera or the technology that can be deployed are not what‘s decisive, but the idea behind the image. „It‘s all about constantly verifying viewing habits – not just my own, but also those of the observer. Today, we are surrounded by such a tremendous flood of images that it‘s necessary to produce works against which you can rub. Something that jars and thereby motivates to look more closely should be set against highly glossy pictures with shallow content.“

Telle is a photographer through and through. He has practised and perfected guiding and setting light for decades. „Photography was formerly more artisanal and it’s also important to be very aware of the historical development of its potentials. Meanwhile it has lost its haptic aspect because there‘s no longer a negative. However, I do need knowledge about the technology to compose my images in the best way possible. As in painting, I create an image composition: I have recourse to the proper design possibilities in photography such as position, perspective, light, aperture, time of day, lens, colouring, and choice of foreground and background. Even abstraction and movement are possible, but I avoid effects having nothing directly to do with photography.“

Bernd Telle opens up another level with the ANTIPODE series of large-format works; he turns things on their heads. This turning of photographed motifs effects a unique, curiosity-evoking distancing for us viewers. Without direct reference to reality, we discover the poetic power of photographed objects, and we consider the surfaces and details with „different eyes“ and see as though „for the first time“. We discover the pictorial and graphic qualities of individual surfaces, of their correlation with one another, and of their rhythm without having to – or even being able to – immediately decipher the underlying structure.

Antipodes are the antipodeans on the other side of the globe in the classical Greek sense: our mirror-image selves. We can see and read Bernd Telles‘ photographs, all of which are taken from the cultural context, as mirror images. They show us moments of the brief pause, the tender farewell, or the final look back before a very likely further decline or a significant change. For what Bernd Telle has photographed are moments in a long process of growth and decay of cultural processes, closer to the dying away, leaving the culmination behind. Bernd Telle shows us mirror images of life that act not only as memento mori, but impress with their carefully recorded sensuality – even in an inhospitable place.